- Romantik in Frankreich: Mit heißem Herzen und kühlem Kopf
- Romantik in Frankreich: Mit heißem Herzen und kühlem KopfIm Pariser »Salon«, der wichtigsten offiziellen Kunstausstellung Frankreichs, sprach man 1824 von einem »Massaker der Malerei«. Der junge Eugène Delacroix hatte dort sein Bild »Das Massaker von Chios« ausgestellt, eine Szene aus dem Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken. Doch weniger das aktuelle Thema entrüstete das Publikum als vielmehr die kühne Malweise, die sich an Peter Paul Rubens und den Landschaftsbildern John Constables orientierte. Delacroix' leuchtende, in sichtbaren Strichen aufgetragene Farbe verkörperte Lebendigkeit, Leidenschaft und Freiheit. Gerade in der erhabenen Gattung des Historiengemäldes war dies ein Affront gegen die konservativen Kunstnormen der allmächtigen »Académie Royale de Peinture et de Sculpture«. Delacroix galt fortan lange Jahre als Inbegriff des romantischen Künstlerrebellen.Théodore Géricault und Eugène Delacroix sind die beiden bedeutendsten Künstler der französischen Romantik. Beide beriefen sich auf die Gemälde von Antoine Jean Gros und Pierre-Paul Prud'hon, die mit ihrem malerischen Stil und gefühlbetonten Themen die französische Romantik einleiteten. Im »Romantiker-Salon« des Jahres 1827 allerdings feierten Presse und Publikum vor allem noch die zwar melodramatischen, aber konventionell gemalten Werke von heute wenig bekannten romantischen Malern wie Paul Delaroche, Eugène Devéria, Horace Vernet oder Louis Boulanger.Die romantische Bewegung, die um 1800 alle Bereiche des geistigen Lebens erfasste, fand auch in der bildenden Kunst Frankreichs eine eigenständige nationale Ausprägung. Das Wort »romantisch« bezeichnet aber weder einen einheitlichen Stil noch eine spezielle Themenwahl, sondern eine neue Auffassung vom Inhalt der Kunst und von der Rolle des Künstlers. Die Französische Revolution hatte traditionelle Wertvorstellungen und gesellschaftliche Strukturen aufgelöst. Sie hinterließ eine junge Generation, welche die Gültigkeit absoluter, zeitloser Werte bezweifelte und stattdessen das Ideal des frei denkenden und fühlenden Individuums ins Zentrum ihrer Kunst- und Weltanschauung stellte. Die Maler, Schriftsteller, Kritiker und Musiker der romantischen Künstlerzirkel beriefen sich auf die französische Philosophie des 18. Jahrhunderts, vor allem auf die Rationalismuskritik von Jean-Jacques Rousseau. Sie diskutierten das Gedankengut der deutschen Romantik, das in Frankreich durch die Bücher von Germaine de Staël bekannt wurde, und stritten über die Definitionen des »Romantisme« von Victor Hugo, Théophile Gautier und Charles Baudelaire.Die französische Kunst der Romantik entstand in Opposition zum Klassizismus, dessen Regeln das offizielle Kunstleben in Frankreich fast unangefochten bis zum Ende der Napoleonischen Ära beherrschten und von den einflussreichen Akademiemitgliedern noch bis ins späte 19. Jahrhundert tradiert wurden. Daher entwickelte sich die Kunst der französischen Romantik - hauptsächlich zwischen 1815 und 1850 - erst nach der englischen und der deutschen Romantik in einem von heftigen Auseinandersetzungen geprägten künstlerischen Klima. Die Konfrontation zwischen der Akademie und den verschiedenen antiakademischen Kunstbewegungen, konzentriert in der politischen und kulturellen Metropole Paris, war während des gesamten 19. Jahrhunderts der Motor für die Entwicklung der französischen Kunst.Die Romantik wandte sich gegen die Überhöhung der Vernunft, wie sie die Philosophie der Aufklärung und die Kunst des Klassizismus betrieben hatten. Sie stellte dem Rationalen das Irrationale, dem objektiven Gedanken das subjektive Gefühl zur Seite. Im Zentrum ihrer Kunst stand die schöpferische Fantasie als höchstes menschliches Vermögen. Damit setzten die romantischen Künstler neue, moderne Wertmaßstäbe, die den europäischen Kunstbegriff zum Teil bis heute prägen. Der Künstler sollte seine persönlichen Empfindungen, Vorstellungen und Leidenschaften anschaulich zum Ausdruck bringen, der Betrachter den Inhalt nicht intellektuell entschlüsseln, sondern sinnlich und gefühlsmäßig erfahren können. So wie die Musik über das Gehör, so sollte ein Bild oder eine Skulptur unmittelbar über das Auge auf das Gemüt wirken. Damit wurde das unmittelbar optisch Erfahrbare gegenüber dem Begrifflichen und Erzählerischen aufgewertet.Die Betonung des Gefühls schloss auch den Traum, das Unbewusste und das Wahnhafte ein. Die französischen Romantiker verband eine Vorliebe für dramatische, zuweilen drastische Stoffe, in deren Zentrum das heldenhafte oder tragisch leidende Individuum steht. Nicht in der antiken Mythologie suchten sie ihre Themen, sondern in der Literatur, in den Dramen und Versepen von Dante und Shakespeare, Lord Byron und Goethe, aber auch in der nationalen, meist mittelalterlichen Geschichte und in der christlichen Überlieferung. Dramatische Ereignisse der eigenen Zeit verarbeiteten sie seltener. Im Gegensatz zur still-verträumten Innerlichkeit vieler deutscher Künstler zeigten die französischen Romantiker oft Situationen extremen, leidenschaftlichen Gefühls.Die romantischen Künstler waren sich der Geschichtlichkeit von Kunst bewusst. Dem zeitlosen Schönheitsideal des Klassizismus stellten sie einen wandelbaren Schönheitsbegriff entgegen, da jede Epoche - wie der Schriftsteller Stendhal betonte - ihr eigenes Ideal und ihre eigene Schönheit habe. Die Antike galt nicht länger als absoluter Maßstab des Wahren, Guten und Schönen. Daher wiesen die Romantiker auch das Dogma von der Vorrangstellung der Linie vor der Farbe zurück, das der Klassizismus unter Berufung auf die angeblich farbenfreie antike Plastik aufgestellt hatte. Géricault und Delacroix machten die frei und lebhaft aufgetragene Farbe zum wichtigsten und charakteristischen Gestaltungsmittel der französischen romantischen Malerei. Die Linie stand für Vernunft, Intellekt und Tugend, die Farbe für Gefühl, Sinnlichkeit und Instinkt. Delacroix schrieb den verschiedenen Farben eigenständige Stimmungswerte zu; die Idee eines Bildes wollte er schon in seiner Farbharmonie ausdrücken. Der sichtbar belassene, skizzenhafte Farbauftrag sollte im Unterschied zur glatten Oberfläche akademischer Bilder den Eindruck des Unvollendeten vermitteln und Raum für die Vorstellungskraft des Betrachters lassen. Die romantische Skepsis gegenüber kühl-routinierter Vollendung, die Wertschätzung des Skizzenhaften und die Überzeugung von der eigenständigen Wirkung der Farbe bildeten wichtige Ausgangspunkte vor allem für den Impressionismus und den Symbolismus.In der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts waren die Künstler von der Bevormundung durch fürstliche oder kirchliche Auftraggeber unabhängiger; ihre Themen und Stilmittel konnten sie nun freier wählen. Theoretiker der französischen Romantik wie Théophile Gautier forderten - unter dem Schlagwort der »L'art pour l'art«, der »Kunst um der Kunst willen« - die Befreiung der Kunst von kunstfremden Werten: Kunst sollte sich nur um ihre eigenen, inneren Themen kümmern; sie sollte frei sein vom Zwang, bürgerlichem Nützlichkeitsdenken zu entsprechen oder staatliche Normen zu stabilisieren. So drückte das Freiheitsstreben in der Kunst von Géricault und Delacroix auch den Ruf nach politischer Freiheit und den Protest gegen die reaktionäre Regierung der Bourbonenkönige aus. Die künstlerische Freiheit hatte jedoch ihren Preis: Die Künstler mussten ihre Werke der bürgerlichen Öffentlichkeit in Ausstellungen anbieten, die von einer konservativen Jury kontrolliert wurden. Innovative Künstler wurden daher oft zu umstrittenen oder unbeachteten Außenseitern, die ihre Kunst gegen permanente Widerstände durchsetzen mussten. Die herkömmliche Kunstkritik deutete die Forderung des »L'art pour l'art« indes in ihrem Sinne um - in das Ideal einer hehren, über den Niederungen des Alltags stehenden Kunst, welche die Flucht in eine andere, schönere Welt erlaubte. Dagegen setzte sich schon in den Dreißigerjahren eine neue Kunstrichtung heftig zur Wehr: der Realismus.Dr. Friederike KitschenEuropäische Kunst im 19. Jahrhundert. Vaughan, William: Band 1: 1780—1850. Vom Klassizismus zum Biedermeier. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1990—91.
Universal-Lexikon. 2012.